Heinz Hessdörffer – ein Leben im Zeichen der Hoffnung
( 30.01.1923 – 03.05.2019 )
Der lange Weg zurück
Ein Essay über das Leben und Wirken Heinz Hesdörffers
von Dr. Raphaela Kitzmantel
Am 30. Januar 1933 feiert Heinz Hesdörffer, ein Grundschüler aus Kreuznach in Rheinland-Pfalz, seinen 10.Geburtstag. An eben diesem Tag wird Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt. Es sollte der letzte Geburtstag werden, an dem „arische“ Mitschüler mit ihrem Klassenkameraden Heinz Geburtstag feiern würden. Im selben Jahr wechselt Hesdörffer an das Gymnasium in seinem Geburtsort und erinnert sich rückblickend, dass es ihm unerträglich erscheine, welchen Anfeindungen er dort als einziger jüdischer Schüler unter 600 „Hitlerjungens“ täglich und stündlich ausgesetzt war. Am 16. April 1929 war Heinz in der örtlichen Grundschule eingeschult worden und nach deren Abschluss in das Gymnasium an der Stadtmauer gewechselt. …
Ein Essay über das Leben und Wirken Heinz Hesdörffers
von Dr. Raphaela Kitzmantel
Am 30. Januar 1933 feiert Heinz Hesdörffer, ein Grundschüler aus Kreuznach in Rheinland-Pfalz, seinen 10.Geburtstag. An eben diesem Tag wird Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler
ernannt. Es sollte der letzte Geburtstagwerden, an dem„arische“ Mitschüler mit ihrem Klassenkameraden Heinz Geburtstag feiern würden. Im selben Jahrwechselt Hesdörffer an das Gymnasium in seinem Geburtsort und erinnert sich rückblickend, dass es ihm unerträglich erscheine, welchen Anfeindungen er dort als einziger jüdischer Schüler unter 600 „Hitlerjungens“ täglich und stündlich ausgesetzt war. Am 16. April 1929 war Heinz in der örtlichen Grundschule eingeschult worden und nach deren Abschluss in das Gymnasium an der Stadtmauer gewechselt.
Anlässlich einer Videodokumentation wiederholt er noch als über 80-Jähriger vor den ihn begleitenden Jugendlichen die antisemitischen Schmäh-Reime der Mitschüler an jener Schule, die er im Frühjahr 1938 als Jude letztlich verlassen musste. Offensichtlich blieb ihm die gefühlte Schmach ein Lebtag schmerzlich im Gedächtnis. Dennoch kommentiert er vor den Schülern lakonisch, dass das eben seine Erinnerungen an diesen Ort seien. (Vgl. „Schritte ins Ungewisse“, Ev. Jugend im Kirchenkreis an Nahe und Glan, 2012)
Heinz und sein um drei Jahre jüngerer Bruder Ernst wuchsen in einem liebevollen Elternhaus in der kleinen Stadt Kreuznach auf, rund 80 Kilometer westlich von Frankfurt am Main („Bad“ seit 1942). Im Jahr 1933 lebten in Kreuznach (laut Gedenktafel in der Synagoge) 713 jüdische Bürger, zwei Jahre später 200. Zwischen 1942 und 1945 wurden diese Verbliebenen fast alle deportiert. 23 Mitglieder zählte die jüdische Gemeinde zu Kriegsende. (Vgl. https://www.alemannia-judaica.de)
Seine Mutter Johanna, geborene Joseph, stammte aus einer Landwirtfamilie aus dem Naheland in der Pfalz, die Weinbau betrieb. Sie heiratete Karl Hesdörffer, einen gelernten Konditor aus Fulda im Juni 1921 und führte mit ihm und dessen beiden Brüdern Hugo und Benedikt, eine Schokoladen- und Zuckerwarenfabrik im Zentrum von Kreuznach. (Vgl. Dokumentarfilm „Schritte“ 2012)
Heinz Hesdörffer beschreibt seine Familie als praktizierend jüdisch-religiös. Nach dem Tod seines Vaters Karl im Jahr 1934 hat er das ganze Trauerjahr Kaddisch (Totengebet) gesagt: Entsprechend ging er schon um 6 Uhr früh vor der Schule in die Synagoge und war auch immer bei den Abendgottesdiensten, um diese „wichtige Ehrung“ seines Vaters „zu erfüllen.“ (Memoiren, S. 10 – in der Folge „M.“) „Zu jener Zeit war ich noch fromm“, erinnert er sich zurück – „heute [Anm.: nach dem Krieg] merkt man nichts mehr davon.“ (M., S. 33)
Es sind sehr präzise Aufzeichnungen, die Hesdörffer im Herbst/Winter 1945/46 in Brüssel (wo er sich nach Kriegsende befindet) zu Papier bringt, als ihm noch alle Daten, Namen und Einzelheiten der vorangegangenen dramatischen Jahre genau im Gedächtnis sind. Unter dem Titel „Bekannte traf man viele…“ (Heinz Hesdörffer im Chronos Verlag, Zürich 1988, „M.“) schildert er nüchtern und in schonungsloser Direktheit, was seiner Familie und ihm persönlich unter nationalsozialistischer Herrschaft widerfuhr. Die Erfahrung wird auch für Menschen, die nach 1945 geboren wurden, unmittelbar nachvollziehbar und hinterlässt die Frage, wie sicher man sich überhaupt im Leben fühlen kann, wenn der Mensch zu solch Grausamkeiten anderen Menschen gegenüber fähig ist.
Die Kapitel der Memoiren sind schlicht nach Hesdörffers Aufenthaltsorten während des Zweiten Weltkriegs benannt und schon diese Namen sagen alles: Westerbork, Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau, Außenkommando Schwarzheide, Sachsenhausen-Oranienburg, Der Todesmarsch. Am Anfang steht das im Allgemeinen in der breiten Bevölkerung nicht sehr bekannte „Westerbork“; ein wie Hesdörffer schreibt ursprünglich von der holländischen Regierung errichtetes Internierungslager für deutsche Flüchtlinge auf dem Weg der Auswanderung nach Übersee.„Kein Mensch in Holland hatte dieses Lager gekannt oder kennen wollen, nun wurde es von einem Tag auf den anderen der Schrecken der Juden Hollands.“ (M., S. 23)
Nach der Übernahme der Lagerleitung durch die Gestapo 1942 fanden von dort die Deportationen nach Polen statt. „Das Leben in Westerbork war eigentlich erträglich, die Arbeit nicht allzu schwer, und geschlagen wurde niemand […]. Wenn nur nicht immer die Todesangst vor Deportationen gewesen wäre.“ (M., S. 64) Plastisch schildert Hesdörffer den Ablauf in den Transportnächten, in denen niemand schlief und jeder versuchte, seinen Bekannten zu helfen. „Nie wurden so viel Tränen auf einmal vergossen als bei diesem Abschied von Freunden und Familienmitgliedern, nie sah ich so viel Leid und Kummer, so viel Furcht und Angst vor dem unbekannten Schicksal.“ Gerechnet wurde mit allem, aber dass nur zwei Prozent aller Deportierten aus Polen zurückkommen sollten, und diese wenigen Menschen zum Teil körperlich und geistig krank, ahnte niemand. „Worte fehlen, um hierüber weiter zu berichten“. (M., S. 65)
Wie kam es dazu, dass Hesdörffer nach Westerbork kam?
Nach der sogenannten Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938, in der in der Schokoladenfabrik der Familie „viele große Gläser mit Essenzen“ zerschlagen wurden, „ebenso wie alle Fenster“ und alles im Wohnhaus zerstört wurde, „alle die wertvollen Meissen-Figuren, die mein Vater gesammelt hatte, alles Porzellan, Tafelgeschirr, Kristall, Gläser und was noch vernichtet werden konnte“ (…), hatten, wie Hesdörffer schreibt, „alle nur noch den einen Gedanken: Fort von hier […].“ (M., S. 17)
„Gegen drei Uhr morgens“, schildert eine Augenzeugin, „gab es einen furchtbaren Spektakel von Nazi-Menschen mit Autos“, ein Wohnhaus wurde „kurz und klein geschlagen. Die Betten und schöne Wäsche, Sofakissen, gute Teppiche wurden zum Fenster herausgeworfen, in Schutt und Schmutz geworfen…“ Ein anderer Zeuge schildert das „wüste Durcheinander“ und „Glasscherben“ in der Synagoge.
(Beide Zitate nach: Andrea Fink: Uns allen eine Mahnung zur Achtsamkeit.
In: Heft Nr. 11-1/96. Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Gedenkstättenarbeit in Rheinland- Pfalz, https://www.alemanniajudaica.de/Bad Kreuznach Sachor.pdf)
In welches Land man sich aber flüchten konnte und wie die Ausreise zu organisieren wäre, das war auch in Hesdörffers Familie unklar, die ja seit Generationen in Deutschland ansässig war. Es vergingen nach der „Reichskristallnacht“ noch Monate, bis der damals 16-jährige Heinz und sein 13-jähriger Bruder Ernst Deutschland am 30. März 1939 in Richtung Holland verlassen konnten. In den Monaten vor seiner Flucht hatte er bis zu diesem Tag als Schüler an der jüdischen Schule „Philanthropin“ in Frankfurt am Main verbracht, wohin er vom Gymnasium Kreuznach wechseln musste. In Frankfurt lebte er bei Tante und Onkel, die noch 1939 nach Südafrika (wohin Hesdörffer nach dem Krieg zog) entkamen.
Trotz aller Widrigkeiten, mit denen er auch dort zu kämpfen hatte, wusste Hesdörffer den Umgang der Menschen in Holland mit der jüdischen Bevölkerung und den eingewanderten Juden im Vergleich zu jenem anderer Länder sehr zu schätzen. Sogar noch im Jahr 1942 sei es so gewesen, dass „die Holländer uns allgemein halfen“. Als ein Beispiel dafür erzählt er: In jener Zeit, in der Umzugs- und Reiseverbote galten und „arische“ Geschäfte nur in einer gewissen, kurzen Zeitspanne betreten werden durften, hätten ihm holländische Geschäftsleute gute Waren zurückgelegt. (M., S. 21)
Es war Ende März des Jahres 1939, als Hesdörffer mit einer Gruppe anderer Jugendlicher in Rotterdam eintrifft. Das erste Jahr in Holland beschreibt er in seiner Videodokumentation als „ziemlich normal“ für „Flüchtlingskinder“. Doch im September 1940 musste er das zunehmend unsicher gewordene Küstengebiet verlassen und fand sich im Jahr 1941 im Hinterland wieder, in der damals (lt. Wikipedia) 95.000 Einwohner zählenden Stadt Arnhem an einem Seitenarm des Rheins (Nederrijn), „um sich nicht schnappen zu lassen.“
Als im Winter 1942 „[d]en Haag verlangte, dass aus Arnhem eine gewisse Anzahl Juden nach Westerbork abgeführt wurde“ (M., S. 41), muss auch Hesdörffer mehr denn zuvor die Verhaftung fürchten. Ohne eine obligatorische Reisegenehmigung flieht er daraufhin mit seinen beiden Freunden nach Amsterdam, wo sie – rein zufällig – in einem Dachzimmer in dem Haus, in dem auch Anne Frank gewohnt hatte – unterkommen. Hesdörffer gelingt es, nachträglich die Reisegenehmigung für diese Fahrt zu erwirken, und somit die rückwirkende Legalisierung (Abmeldung in Arnhem und die Anmeldung in Amsterdam per 8.12.1942), was ein Schreiben von der „Deutschen Zentralstelle für jüdische Auswanderung, Abtlg Evacuation und Hausraterfassungsstelle“ vom 7. Dezember den „Herren Heinz Hesdörffer, Günter Kaufmann, Alfred Wallentin“ mit der Genehmigung für den Umzug und Einquartierung in Amsterdam bescheingt. (M., S. 43)
Trotzdem kommt es mit seinem Kontaktmann zum Judenrat, Dr. Sluzker, zu Verwerfungen, die ihm langfristig schaden sollten. Dies geschah, da sich „Heldengeschichten“ von dieser Flucht der drei Freunde verbreiteten, die „durch Fenster und Garten […liefen], während die Gestapo schon im Haus war“. Dr. Sluzker befürchtete, dass man ihn der Mithilfe bezichtigen könnte, was zur Folge hatte, dass er Hesdörffer die eigentlich lebenswichtige Anstellung in Amsterdam verweigerte: „Bei mir arbeiten nur Leute, die sehen und schweigen können. Sie aber haben durch ihr unüberlegtes Auftreten sich selbst und mich gefährdet […].“ (M., S. 45)
Hesdörffer und zwei Freunde sind dankbar für den Amsterdamer Winter 1942/43 in Freiheit
Fortan sind sie in einem Metallwarenbetrieb beschäftigt, der der Wehrmacht zulieferte. Der Weg dorthin war weit, die Arbeit war hart, doch man war dankbar für diesen Amsterdamer Winter 1942/43 in Freiheit. Durch diesen Posten und als Inhaber eines offiziellen Ausweises des Judenrates hält sich Hesdörffer für relativ abgesichert. Dennoch passiert das Unvermeidliche:
Am 2. März 1943 werden die drei Freunde um halb 12 Uhr nachts aus dem Schlaf gerissen und zu einem Überfallwagen eskortiert. In der eintretenden Wartezeit auf der Straße gelingt es den Dreien, in einen nahen Hauseingang zu fliehen. Hesdörffer stellt sich kurzfristig bei einer
Familie unter, an deren Tür er in seiner Not geklopft hatte und die er dadurch, wie er ehrlich bedauert, auch in Gefahr brachte.
In dieser Nacht gelingt es den drei Freunden auf diese Weise, wieder heil (und barfuß bzw. in geliehenen Sandalen, um nicht durch das Klappern der Schuhe Aufmerksamkeit zu erregen) in ihre Wohnung zurück zu kommen. Doch dem nächsten Abholkommando, das am 4. März nach der Arbeit bei ihnen mit einem Haftbefehl eintrifft, können sie nicht entkommen. Auch Dr. Sluzker macht klar, Hesdörffer nicht mehr helfen zu wollen. In der Nacht vom 5. auf den 6. März 1943 wird Hesdörffer nach Westerbork deportiert.
Hesdörffer steht in der Zeit in Holland ständig unter größtem Druck. Er bemüht sich, Verbindungen zum Jüdischen Rat, („Joodsche Raad voor Amsterdam“) aufzubauen, indem er persönlich, brieflich und telefonisch für seine Belange (und die des Bruders) eintritt. Von morgens bis spät in der Nacht ist er in der Werkstatt in der Rucksackfabrikation mit dem Zuschnitt von Rucksäcken und Brotbeuteln beschäftigt – immer in der Hoffnung, er sorge damit für Ernsts und seine eigene Sicherheit.
Sein Bruder Ernst lebt zweieinhalb Jahr lang in Dordrecht bei Herrn Katan, einem Sekretär des Jüdischen Rates. Es war, wie in den Memoiren berichtet wird, Heinz selbst, nicht dieser Sekretär, dem es gelang, für seinen Bruder einen Ausweis als Angestellter des Sekretariats Dordrecht vom „Joodsche Raads voor Amsterdam“ (M., S. 30) zu organisieren. „Schreckliche Szenen spielten sich in jenen Juli- und Augusttagen 1942 in den Gängen des Hauses in der Nieuwe Keizersgracht ab. Greise, schwangere Frauen, Kinder aus dem Amsterdamer Judenviertel in ihren zerlumpten Fetzen, daneben Damen und Herren aus dem Zuid, der vornehmen Wohngegend, die ihren Aufruf in der Tasche hatten und die bis zum letzten Augenblick versuchten, sich zu retten. Tage- und nächtelang hörte man das Jammern und Heulen dieser zum Tode Verurteilten, aber es konnte doch nicht jeder eine Anstellung erhalten.“ (M., S. 27)
Der Judenrat Amsterdam (Februar 1941 bis September 1943) wurde von der deutschen Besatzungsmacht eingerichtet. Hesdörffer beschreibt, dass das „Comité voor bijzondere Joodsche Belangen“, das mit der holländischen Regierung über die Legalisierung illegaler jüdischer Flüchtlinge verhandelt und bei der Weiterwanderung nach Übersee geholfen hatte, im Sommer 1941 von der Gestapo eingenommen worden war, die auch alle Akten beschlagnahmt hatte. Daraufhin wurde „im Auftrag der deutschen Behörden im selben Rahmen“ der besagte Judenrat gegründet. (M., S. 25)
Hesdörffer: „Ich persönlich erkläre den gesamten J.R. für schuldig. Alle, die erste Positionen innehatten, tragen dieselbe Verantwortung, ohne Unterschied ob sie nun holländische oder deutsche Juden waren.“ (M., S. 26)
Offizielle Bestätigungen (am 14. Oktober 1942 erhielt Heinz ebenfalls einen Ausweis des Judenrates als offizieller Angestellter, M., S. 32) und Posten erweisen sich bloß als vermeintliche Sicherheiten. Das Unheil nähert sich: Die Brüder Hesdörffer erreicht die Nachricht von der Deportation ihrer Tante Lina, bei der ihre Mutter Johanna lebte, aus Fulda nach Theresienstadt (später Auschwitz).
Nachdem Bemühungen seiner Mutter Johanna für eine Ausreise nach England und auch nach Kuba gescheitert waren, tut Hesdörffer alles, um einen Ausweg aus der schwierigen Lage zu finden, indem er versucht, sich „die nötigen Beziehungen zu schaffen“, denen, wie er sich erinnert, er es zum Teil zu verdanken habe, den Krieg überlebt zu haben. Das amerikanische Konsulat in Rotterdam sagt schließlich ein Visum zu, sogar die Möbel waren schon im Lager der Amerika-Rotterdam-Linie verstaut – und es gelingt am 6. Mai 1940, auch die Einreisegenehmigung für Johanna nach Holland zu bekommen. Doch „berauscht vom Glück, unsere Mutter wiedersehen zu können,“ übersieht Hesdörffer (in eigenen Worten), dass es für die Flucht bereits zu spät geworden war. Die Kriegsereignisse überschlagen sich, am 10. Mai 1940 greift das Deutsche Reich Belgien an. Hesdörffers Mutter bleibt nichts anderes über, als ihren Wohnsitz im Dezember 1941 endgültig nach Fulda, zur Schwester ihres verstorbenen Ehemanns, zu verlegen. Obwohl Johanna Hesdörffer in einem „wehrwichtigen“ Betrieb Arbeit findet – und daher noch Hoffnung auf Verschonung besteht – wird sie am 30. Mai 1942 deportiert, „und wir erhielten nie wieder ein Lebenszeichen von ihr.“ (M., S. 21)
Am 24. und 25. Oktober 1942 sieht Heinz auch seinen Bruder schließlich zum letzten Mal. Ernst hatte ihn in diesen Tagen in Arnhem besucht. Im Detail beschreibt Hesdörffer über mehrere Seiten in seinen Memoiren, welche Schritte er setzte, um Ernst zu retten, der auf einen Transport aus Dordrecht nach Westerbork gekommen war. (M., S. 39)
Man spürt seinen Schmerz in seinen Worten:
„Wäre ich selbst in Westerbork gewesen, wäre so etwas nie vorgekommen; aber Ernst hatte keine Ahnung von alldem, kam natürlich auch nirgends vor und erhielt keine Auskünfte. […]
Was bis heute über Ernsts Schicksal festzustellen ist, das ist eben folgendes: auf Transport gestellt am 21. November 1942 nach Auschwitz.“ (M., S. 40)
Auch Hesdörffer selbst wird dieses Schicksal, wie zu Beginn beschrieben, nicht erspart. Westerbork, so schreibt Hesdörffer, war Ende Februar 1944 nur noch dünn besiedelt, „jede Woche waren Transporte abgegangen,“ und ihm war nunmehr dort „der Boden zu heiss geworden“. (M., S. 84) Er bemühte sich schließlich selbst, auf die Transportliste nach Theresienstadt zu kommen, und es war „eine besondere Vergünstigung, wenn man das ‚Glück‘ hatte, dorthin zu kommen. Immer noch besser, heute freiwillig nach Theresienstadt zu gehen, als morgen oder übermorgen nach Auschwitz verschleppt zu werden.“ (M., S. 84–85) Lange quält Hesdörffer die Frage, ob er mit dieser Entscheidung richtig gehandelt habe, konnte dann aber rückblickend sicher sein, dass dem so war. In Theresienstadt fühlt er sich ruhiger und gelassener, denn, während man in Amsterdam die Gestapo allabendlich mit dem Haftbefehl erwartete und „in Westerbork jeden Dienstag die Stunde der Deportation schlagen konnte“, gingen von Theresienstadt seiner Erinnerung nach nur selten Transporte nach Polen. (M., S. 91) Eine Bekannte von Heinz, Selma Schüler, sorgt in Theresienstadt für ihn, unterstützt ihn, indem sie seine Wäsche wäscht und ihm mit Geld und Nahrung aushilft, und er trifft auch viele Bekannte aus Westerbork und dem Jüdischen Rat wieder. In Theresienstadt war Hesdörffer einerseits beeindruckt von Aufführungen der Künstler „mit Namen und Ansehen, die früher an Berliner und Wiener Bühnen“ tätig gewesen waren (M., S. 94), von Medizinern, Literaten und Sportlern, andererseits musste er feststellen, dass „in allen Ecken, Winkeln, Dachböden und Höhlen“ Menschen hausten, die auf den erlösenden Tod warteten. (M., S. 97)
Auf dem Transport nach Auschwitz, in dem 70 Menschen standen, saßen und hingen, versucht Hesdörffer die Kontrolle zu behalten
Unerbittlich folgt am 18. Mai 1944 Hesdörffers Abtransport nach Auschwitz-Birkenau. Selbst in dieser furchterregenden Situation versucht Hesdörffer, die Kontrolle zu behalten und geht daran, den überfüllten Viehwagen, in dem 70 Menschen saßen, standen und hingen „zweckmäßig einzuteilen“, so dass jeder „ein Eckchen“ erhielt, wo er sich hinsetzen konnte. Er selbst schafft es, unterhalb einer geöffneten Luke Platz zu finden, die inmitten des Gestanks (aufgrund der Überfüllung, der Wunden der Kranken und der Exkremente) etwas Frischluft verströmte. Bekannte erinnern sich, dass Hesdörffer im Alter einen übertrieben großen Sinn für Ordnung hatte – entsprungen womöglich der Suche nach Halt in größtmöglicher Unsicherheit und Chaos.
Angekommen, wird sogleich klar, dass dieser Ort nicht das „Durchgangslager Westerbork“ oder das „Lager der Bevorzugten Theresienstadt“ ist, sondern das „Zentral Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, ein Lager, das bereits Millionen Juden aus Ost- und Westeuropa, Mitteleuropa und den Balkanländern geschluckt hatte und nun auch uns verarbeiten sollte.“ (M., S. 105) Hesdörffer schreibt, dass er sofort erkannte, hier mit den „schönsten Reden“ nichts erreichen zu können, „hier sprach nur der Gummiknüppel und regierte die Gewalt.“ (M., S. 105) Er wird unter anderem in das „Lorenkommando“ eingeteilt, das Material für den Bau der Lagerstraße zu besorgen, Steine von außerhalb des Lagers zu holen und in Schwerstarbeit zu schleppen hatte. Eine der bewegendsten Szenen, die er schildert, war das unvermutete Wiedersehen mit einer früheren Freundin, Bertha Rothschild, die ihm mit einer Gruppe von Mädchen am Rückweg ins Lager mit beladener Lore begegnete. „Das früher hübsche, blühende Mädel war, wie alle übrigen des Kommandos, kahl geschoren und zum Skelett abgemagert, sah alt, müde und elend aus. Das hatten drei Monate Auschwitz angerichtet, und der Anblick flösste mir gewiss keinen Mut ein.“ Als Hesdörffer ihr nichtsdestotrotz Mut zuspricht, zieht sie bloß die Schultern hoch, „ich werde diese Bewegung ewig vor mir sehen“ – Bertha hatte ihren Lebenswillen verloren. (M., S. 126)
Durch einen Stacheldraht getrennt hatte Hesdörffers Kommando auch Blickkontakt zu einer Gruppe von 20.000 „armen ungarischen Mädels“, die „primitiver leben mussten“ als die Männer. Kaum vorstellbar, lagen doch in einer Etage sechs Männer, „von denen der Herrg“tt G“tt sei Dank, täglich ein paar alte erlöste“, während die Mädchen zu zwölft in einer Koje lagen.
In Hesdörffers Kommando muss eine Gruppe bis Mitternacht frierend im Freien stehen, um dann um 24 Uhr den Schlafplatz mit der Gruppe zu tauschen, die ihn bis dahin innehatte. Um 4 Uhr und (in Hesdörffers Fall) um 17 Uhr war Appell. Herzzerreissend ist es auch, wie er das Appell-Stehen der 13- und 14-jährigen Kinder beschreibt.
„Sollte Wasser fliessen, oder strömte Gas aus?“
Am 30. Juni 1944 erfuhr Hesdörffer, dass 2.000 Männer am nächsten Tag abtransportiert werden sollen, und es sollte sich herausstellen, dass er unter diesen war. Niemand wusste, was zu erwarten war, als sie in einen Raum geschleust wurden und sich zum Baden nackt ausziehen mussten, in Gruppen von 30 Mann. Die seiner Erinnerung nach „langsame Abfertigung“ stört ihn nicht, reichen doch Häftlinge von außen dem stets Hungernden Lebensmittel herein, und es bestand doch die Angst: „Sollte Wasser fliessen, oder strömte Gas aus?“ (M., S. 131) Auch der so sorgsam gehütete Schatz in seinen Schuhsohlen, Familienfotos, wird hier entdeckt, die Schläge der Wachen setzen wie erwartet ein. „Nun war mir das Letzte, was mir teuer und lieb war, genommen, (…) und nichts blieb übrig als Roheit und Grobheit.“ (M., S.131) Tiefe Verzweiflung angesichts des selbst erfahrenen und mitgefühlten Leids erfüllen ihn ebenso wie die Erleichterung, als sich herausstellt, dass die Dusche mit Wasser befüllt wurde und nicht mit Gas, hatte er doch zwei Krematorien sechs Wochen lang Tag und Nacht brennen gesehen. Wie groß war schlussendlich das Glücksgefühl im Augenblick des Abtransports mit einem Zug aus Auschwitz heraus, ohne aber zu wissen, was nun zu erwarten – schwer vorstellbar, wie dies für die Menschen körperlich und psychisch – überhaupt aushaltbar war.
Am 3. Juli 1944 erreichte Hesdörffers Zug ein mit Stacheldraht umzäuntes Barackenlager mit der Aufschrift „Ostarbeiterlager der Braunkohle Benzin Aktiengesellschaft Berlin, Werk Schwarzheide (Brabag).“
Er wird in einen Block gemeinsam mit dem „allein auf Transport gestellten“ 17-jährigen Isi Kofmann eingeteilt, mit dem (und dessen Vater und Bruder), er schon in Auschwitz eine Koje geteilt hatte, und seitdem gut befreundet war. Während Hesdörffer sich in Auschwitz wie auf einem großen Friedhof, abgeschieden in einer einsamen Wüste gefühlt hatte, schien hier aufgrund der nahen Autobahn Dresden-Berlin das echte Leben und die Freiheit näher.
Er beschreibt die „Brabag“ (in „zahlreichen Arbeitsgängen wurde hier aus Kohle Benzin gewonnen und von den Abfallstoffen andere wichtige chemische Nebenprodukte erzeugt“, M.,S.145) als eine Stadt für sich selbst, in der er sich erst nach Monaten auskannte. (M.,S.144) Die Arbeit war unendlich schwer, unter großer Anstrengung und in Hitze musste Hesdörffer Kies, Sand und Zement aus Waggons ausladen und Material auf Bänder schippen; oder bei einem anderen Einsatz Kabel, die bei einem Bombenangriff zerstört worden waren, unter Bergen von Sand freilegen (M., S. 147). Bei jeglicher Schwäche drohten die Posten mit den Worten: „Zurück nach Auschwitz in den Kamin“ (M., S. 145). Sie wussten also Bescheid. Tatsächlich wird ihm auch nach seiner Meldung im Lager-„Krankenhaus“, dass seine Lungen angegriffen seien und er die Arbeit nicht aushalte, die offizielle Auskunft erteilt, dass er „nach Auschwitz zurückgeschickt und gegen arbeitsfähige Leute ausgestauscht“ werden würde. (M.,S.148) Er machte sich „die heftigsten Vorwürfe“, sich sozusagen „freiwillig für die Gaskammer“ gemeldet zu haben, und er hätte täglich abberufen werden können. Einige Zeit später im Lager erfuhr er jedoch, dass Auschwitz den Rücktransport abgelehnt hatte und er nun offiziell dem Lager Sachsenhausen-Oranienburg unterstand. (M.,S.150) Als Kartoffelschäler in der Küche hatte er zumindest nicht nur eine vergleichlich leichtere Arbeit, sondern konnte auch für seinen Freund Isi Kofmann Lebensmittel abzweigen, damit dieser nach der Schwerstarbeit noch zusätzlich etwas zu essen bekam. (M.,S.149)
Am 21. April 1945 wurde mit der „Evakuierung“ des Lagers begonnen
In der Nacht des 19. April 1945 wurde Hesdörffer mit anderen Insassen mit Bussen nach Sachsenhausen gebracht und sie durchquerten auf dem Weg Berlin, wo er zwei Wochen vor Kriegsende, „mit eigenen Augen die kolossalen Verwüstungen“ sehen konnte. Zwei Tage später wurde mit der „Evakuierung“ von Sachsenhausen begonnen, wobei „es absolut keine Kontrollen mehr“ durch die SS gab, „die Hauptsache war, dass stündlich einige tausend Häftlinge das Lager verliessen.“ (M.,S.213) „Bewaffnet mit einer Pferdedecke zum Schlafen und allen möglichen trüben Gedanken im Kopf, ausgemergelt und schwach […] traten wir am Abend des 21. April 1945 den Todesmarsch an.“ Ohne das Ziel zu kennen, aber im Hinterkopf, dass jede Stunde die ersehnte Rettung bringen könnte, schleppte sich das „flüchtende KZ“ voran. Häftlinge mussten Karren mit dem Hab und Gut der SS-Angehörigen unter Auferbietung letzter Kräfte vorwärts ziehen. Zu Hesdörffers Erleichterung befinden sich in der Gruppe einige „besser genährte Männer, die eine solche Anstrengung noch ertragen konnten“, deren er „einfach nicht mehr fähig war.“ (M., S. 215)
Er erlebte aus nächster Nähe das Zusammenbrechen von Kameraden, hörte die Schüsse, mit denen sie ermordet wurden, sobald sie zusammenbrachen, und den Tod eines seiner alten Freunde bringt ihn vollends an das Ende seiner Nerven. (M., S. 217)
Nach 10-stündigem Marsch gibt es die erste halbstündige Pause, von der Hesdörffer kaum mehr aufkommt. „Überall wo wir liefen, hinterliessen wir eine breite Spur mit ausgemergelten Leichen.“ (M., S. 218) Nach 24-stündigem Marsch wird ein verlassenes Gut in Lindow erreicht. Der Diebstahl von seinen aufgesparten Lebensmitteln bringt ihn derart um den Verstand, dass er statt sich auszuruhen „wie ein Irrer herumrannte“, um den Dieb zu finden. Er war in dieser Situation nicht mehr Herr seiner Sinne, und muss dann auch noch einen weiteren Diebstahl verkraften, ausgerechnet seitens jenes Kameraden, mit dem er „jahrelang alles Leid geteilt“ hatte, und nun selbst ihm auch nicht mehr vertrauen konnte.
Nach einem weiteren Marsch von ca. 20 km, nachdem wohl der letzte „Westerborker“ aus Hesdörffers Gruppe ums Leben gekommen war, erreichten sie einen Bauernhof in der Nähe von Rheinsberg, wo es eine 24-stündige Pause gab. Am 25. April ging es 15 km weiter, zu einem Gehöft nahe Wittstock. Am nächsten Tag setzte sich der Marsch unter unerträglichem Hunger fort. Die Nacht wurde unter strenger SS-Bewachung in einem Wald bei Below im Freien verbracht. „Ich krabbelte auf allen vieren im Wald herum, um unter dem welken Laub Bucheckern vom vergangenen Jahr zu suchen.“ (M., S. 222) Am nächsten Morgen hustet Hesdörffer und hat Gliederschmerzen.
Er berichtet, dass von den 40.000, die Sachsenhausen am 21. April verlassen hatten, am 28. nur noch 14.000 am Leben gewesen seien. (M., S. 223) Nun war die Wahl zu treffen, die nächste Etappe von angekündigten 35 km zu nehmen, oder sich krank zu melden und im nahen Dorf Grabow untergebracht zu werden. Hesdörffer entscheidet sich voll Angst für Grabow, kann diese Entscheidung doch ebenso wie das – körperlich schier unmöglich gewordene – Weiterwandern den Tod bedeuten. Für die 2 km nach Grabow brauchen die völlig Erschöpften mehr als eine Stunde. In dem Dorf wurden sie zur großen Erleichterung tatsächlich in leerstehenden Ställen untergebracht und ganz notdürftig von Sanitätern – noch immer unter SS-Bewachung – versorgt. Erst am nächsten Morgen war die SS verschwunden. Hesdörffer war stark im Magen-Darm-Trakt erkrankt und völlig dehydriert. Niemand hatte die Kraft gehabt, den Abzug der SS feiern zu können, genausowenig wie zuvor irgendeine Auflehnung gegen die SS physisch möglich gewesen wäre. Er lag ruhig im Stroh, als am Nachmittag des 2. Mai um 16 Uhr Jubelschreie hallen: „Die ersten russischen Tanks sind vorbeigerollt… und wir sind frei“ (M., S. 225) Über Lüneburg erreicht Hesdörffer per Flugzeug Belgien und wird mit einem Gewicht von 35 kg in das Brüsseler Spital St. Pierre eingeliefert.
Hesdörffer war eine Persönlichkeit, die sich schon in jungen Jahren – er war 20 Jahre alt, als er im März 1943 nach Westerbork transportiert wurde – nicht einfach mit Gegebenheiten abfand, sondern immer nach Auswegen suchte. Vermeintlich kleine Fragen konnten über Leben und Tod entscheiden: Wie etwa die Frage nach der besten Schlafposition auf der mit einigen anderen Insassen geteilten Lagerpritschen, damit sich der Körper wenigstens kurz von den Strapazen des „Lagerlebens“ erholen konnte; oder die Frage nach dem besten Versteck der liebgewonnenen Fotos von Johanna und Ernst in den Schuhsohlen, um Folter wie stundenlanges Knien oder Schläge zu vermeiden, sollten die Fotos aufgefunden werden. Es stellte sich auch die Frage nach der vorausschauenden Rationierung des überaus kärglichen Essens oder jene nach dem klugen Tausch von Habseligkeiten. Alle diese Entscheidungen konnten schwerwiegende Auswirkungen haben.
Obwohl Hesdörffer mehrfach von Situationen berichtet, in denen er sich eigentlich selbst schon aufgegeben hatte, gelang es ihm letztendlich doch, den Lebensmut nie ganz zu verlieren. Er bleibt der Nachwelt nicht als Opfer in Erinnerung. Seinen Peinigern war er unerbittlich ausgesetzt, doch blieb er ein Mensch, der selbst noch im Konzentrationslager in gewisser Hinsicht „frei“ zu entscheiden vermochte und mutig, klug sowie selbst in Momenten größter Verzweiflung hilfsbereit agierte.
Hesdörffer machte sich 1950 selbstständig als „Grossist von Modeschmuck und Abendtaschen“
Vielleicht liegt es auch an diesen Eigenschaften, dass es ihm gelang, sich ab den 50er Jahren in Südafrika als höchst erfolgreicher Kaufmann zu etablieren. Im Jahr 1947 das Einreisevisum für die USA und Südafrika in Händen, entschied sich Hesdörffer für Johannesburg, wo er in der Lederbranche in der Familie von Cousine und Cousin arbeiten konnte, nachdem er schon in Rotterdam in einer Handtaschenfabrik, in Arnhem mit Rucksäcken und nach dem Krieg mit Handtaschen in Brüssel gearbeitet hatte. Bald übernahm er einen großen Teil des Verkaufs und machte sich 1950 als „Grossist von Modeschmuck und Abendtaschen“ selbständig. (M., S.228) Unterstützt wurde er dabei von seiner Frau Lotte, geborene Mayer. Diese stammte aus Kaiserslautern und überlebte den Krieg in einem Versteck in Wageningen, in der Nähe von Arnhem. Die Eheschließung zwischen Lotte und Heinz erfolgte am 15. August 1954. Das einzige Kind, Sohn Charles, wurde am 16. Dezember 1955 geboren.
Nach einer höchst erfolgreichen Karriere verkaufte Hesdörffer 1993 sein Geschäft und zog dann im Jahr 2002 in die USA, wohin er seinem Sohn, der seit 1986 als Mediziner dort lebte, folgte. Warum aber entschied sich Hesdörffer im Jahre 2009 nach Deutschland zurückzukehren und sich mit immerhin 86 Jahren alleine (seine Frau Lotte blieb gesundheitlich schwer angeschlagen in Amerika) in einer Frankfurter Seniorenresidenz, der Budge-Stiftung, einzuquartieren?
Zunächst erscheint es in Anbetracht der Tragödien, die er in Deutschland erleben musste, unvorstellbar. Er wusste doch, wie die meisten Deutschen sich ihren jüdischen Mitbürgern gegenüber verhalten (oder bestenfalls ihnen nicht geholfen) hatten – welche Hintergründe also veranlassen dazu, mit 86 Jahren zurück an einen Ort zu gehen, der so großes Leid gebracht hat? Hesdörffer selbst nennt als Grund für seinen Umzug in hohem Alter das „Klima“, das er in Deutschland als vorteilhaft empfand. Spekuliert werden kann allerdings, dass es ihm, dem selbstbewussten und erfolgreichen Unternehmer, wohl auch darum gegangen zu sein scheint, die Nachfahren der Nazitäter ganz direkt mit den Taten der Kriegsgeneration zu konfrontieren – aber genauso auch darum, sich selbst ein Bild des modernen Landes und vor allem der jungen Deutschen zu machen. Diesmal würde er sich sicher nicht „die Butter vom Brot nehmen lassen“, wie es Ruth, eine Bekannte aus dem Pflegeheim, formuliert. „Er wollte dahinterkommen, wer damals ein Nazi war.“ (Gespräch v. 8.3.23)
Hesdörffer war nicht gekommen, um in Frieden Abschied von der Heimat zu nehmen, sondern suchte die Konfrontation
In Frankfurt führte Hesdörffer, trotz seines bereits hohen Alters, ein geschäftiges Leben: Dies spielte sich einerseits im Pflegeheim ab, wo er sich, der in der Religionsausübung äußerst bewandert war und eine Liebe zur jüdischen Tradition in sich trug, aktiv (für manche eher eigensinnig) in den Gottesdiensten einbrachte. Ordnungsgemäß und korrekt sollten die Zeremonien ablaufen. Mit dem Rabbiner der Budge-Stiftung, Andrew Steiman, fand er einen kongenialen Diskussionspartner vor, mit dem er beständig in heftigem Austausch zu religiösen Fragen stand und der ihm unermüdlich auch im Alltag zur Seite stand; eine befruchtende und vielleicht auch manchmal zermürbende Beziehung entwickelte sich. Hesdörffer war nicht gekommen, um in Frieden Abschied von der Heimat zu nehmen. Er suchte die Konfrontation, ohne allzu große Rücksicht auf diejenigen zu nehmen, die es mit ihm zu tun bekamen. Für Hesdörffer bedeutete die Begegnung mit Steiman ein großes Glück, da er jemanden gefunden hatte, mit dem er sich über die unendlich wichtigen Fragen zur korrekten Ausübung des Glaubens austauschen konnte.
Abseits des Lebens in der Budge-Stiftung baute sich Hesdörffer ein für sein Alter bewundernswert großes soziales Netzwerk auf, das bis hin zum Bürgermeisteramt und evangelischen Kirchengemeinden reichte. Sein Freund Andreas Duhrmann, evangelischer Diakon und später auch Testamentsvollstrecker, erinnert sich an Hesdörffers „Liebe für den roten Teppich“. (Gespräch v. 9.3.23) Er kannte keinerlei Scheu, auf Podien zu treten und vor Gruppen zu sprechen. Die damit immer mehr verbundenen körperlichen und auch psychischen Anstrengungen ignorierte er; auch manchmal von Dritten zu Auftritten gedrängt, die aus Sicht mancher Beobachter seine Kräfte fast überstrapazierten. Sein unermüdliches Engagement führte zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande im Dezember 2018.
In seinem Einsatz als Zeitzeuge unterstützte Hesdörffer ab 2009 die Arbeit von Andreas Duhrmann. Im Vorfeld der jährlichen Studienfahrten nach Auschwitz traf er sich mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum Gespräch. In dieser Zeit entwickelten sich Freundschaften zwischen allen Beteiligten. Diese Begegnungen wurden ihm so wichtig, dass er mit der Gründung des Vereins „Bildungswerk Heinz Hesdörffer e. V.“ Spendengelder akquirieren wollte, die den Fortbestand dieser Studienfahrten sichern sollten. Der Verein begleitete ihn in den folgenden Jahren und ermöglichte wertvolle Erfahrungen für alle Seiten
Hesdörffer nahm seine Rolle als Zeitzeuge immer mehr an und richtete sein Augenmerk dabei auf die „guten“ Momente, auf das, was ihm durch Geschick gelungen war – ohne zu verhehlen, dass er wahrscheinlich sehr oft schlicht Glück gehabt habe zu überleben. Auf Fragen zu dem Leben in Auschwitz und Schwarzheide antwortete er ausweichend bis gar nicht. (Gespräch mit Duhrmann, 9.3.23) Hesdörffer entschied sich schließlich dazu, den Verein auch in seinem Testament zu bedenken, sodass die Bildungsarbeit im Landkreis Bad Kreuznach, die sich gegen Antisemitismus und Fremdenhass richtet, für viele Jahre gesichert ist. Hesdörffers Beschäftigung in Frankfurt begann sich immer mehr um die Frage zu drehen, wem sein Vermögen nach seinem Tod – neben seinem Sohn – zu Gute kommen würde. Aus dicken, roten Ordnern, auf deren Rückseite ein Foto des schelmisch lächelnden Hesdörffers prangt, besteht seine schriftliche Hinterlassenschaft, die von seinem treuen Freund Duhrmann sorgsam abgewickelt wurde. Auf Initiative des Frankfurter Vertreters des „Jüdischen Nationalfonds e.V.“ spendete Hesdörffer noch zu Lebzeiten eine nicht unerhebliche Summe für die Pflanzung von Bäumen in Israel und einen Spielplatz. Selbstverständlich – wie man mit Augenzwinkern sagen muss – reiste er dann auch nach Israel, um sich von der Fertigstellung der Anlage mit eigenen Augen zu überzeugen. Im Testament bedachte er zudem eine israelische Klinik für Krebsforschung, in Gedenken an den traurigen Tod seiner Frau Lotte an Krebs. Langfristige Bindungen können aufgrund traumatischer Erfahrungen schwierig für KZ-Überlebende sein; mit diesem Teil des Vermächtnisses ehrt Hesdörffer auf seine Art und Weise speziell seine Ehefrau. Des Weiteren wichtig zu bedenken, war ihm – neben der Jüdischen Kultusgemeinde seiner Heimatstadt und der damit verbundenen Grabpflege der Familiengrabstätten, sowie der Budge-Stiftung, in der er seinen Lebensabend verbrachte – auch das „Bildungswerk Heinz Hesdörffer“. Dieses liegt einer Initiative von Andreas Duhrmann zu Grunde, ohne dessen großes Engagement der Film „Schritte ins Ungewisse“, der die einzelnen Stationen Hesdörffers in den Kriegsjahren dokumentiert, nicht zustande gekommen wäre.
Außerdem kann es nicht genug gewürdigt werden, dass Duhrmann es Hesdörffer mit der Verfilmung auch ermöglichte, an alle die Orte seines Aufenthaltes in den 40er Jahren – in Deutschland, Holland, Tschechien und Polen – zurückzukehren und direkt vor Ort jungen Menschen zu berichten, was sich ereignete. Die langfristige finanzielle Absicherung der Jugendfahrten nach Auschwitz und an anderen Orten von NS- Verbrechen ist nun durch das Erbe gewährleistet. „Bildung ist für uns jüdische Menschen eine Überlebensnotwendigkeit“, soll Hesdörffers Vater seinem Sohn mit auf den Weg gegeben haben – diesem Gedanken gemäß geht auch eine Zuwendung an einen universitäten Förderverein.
Heinz Hesdörffer entschied sich dazu, einen ebenfalls großen Teil des Erbes dem Leo Baeck Institut, das die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums lebendig hält, zu stiften.
Er selbst legte fest, dass ein Teil an das Institut in Jerusalem, ein zweiter Teil an die Niederlassung des New Yorker Instituts in Berlin gehen sollte. Irene Aue-Ben-David, die Direktorin des Leo Baeck Instituts in Israel, ist davon überzeugt, dass Hesdörffer an die Kraft der Arbeit mit Jugendlichen geglaubt hat; ja, dass er es als seinen Auftrag empfunden hat, die heutige Jugend für die politische Auseinandersetzung und das Eintreten für Demokratie und Freiheit zu stärken. In dem Jerusalemer Institut geht es genau um diesen Diskurs, der alle Bevölkerungs- und Altersgruppen einbindet. Die Räumlichkeiten des Instituts können dank Hesdörffers Erbe erworben werden, der bisher angemietete Bereich zugekauft und in deutsch-israelischer Zusammenarbeit mit der Stiftung deutsch-israelisches Zukunftsforum und dem Zentralverband des deutschen Handwerks renoviert werden. Somit findet das Miteinander nicht nur auf der theoretischen Ebene, sondern in der tatsächlich verrichteten Arbeit statt. Ein offener Raum des Zusammentreffens der Nachbarschaft und aller Interessierter verschiedenen Alters, ein Raum des Lernens voneinander und des Diskutierens, wird der würdige Einsatz von Hesdörffers Erbe sein. Auch in Berlin stehen die politische Bildung und pädagogische Arbeit im Fokus. Die Berliner Direktorin Miriam Bistrovic sieht die projektbezogene – und daher aufgrund von Projektvorgaben oft erschwerte Bildungsarbeit – durch das Erbe langfristig und ununterbrochen abgesichert. Dies bedeutet eine unschätzbare Erleichterung in der täglichen Kultur- und Bildungsarbeit. Die Kooperation mit dem „Bildungswerk Heinz Hesdörffer“ sieht unter anderem vor, eine Wanderausstellung mit Begleitprogramm nach Bad Kreuznach zu bringen. Ebenso geplant ist die Ausweitung der bereits etablierten bundesländerübergreifenden Kooperationen mit Partnern der politischen Bildung, NGOs und lokalen Initiativen zur Prävention von Antisemitismus und Information über das Judentum in all seinen Facetten. Im Rahmen dieser Vermittlungsarbeit werden unter anderem deutschsprachige Podcasts konzipiert. Anhand von zwölf persönlichen Geschichten wird das Thema Exil exemplarisch mit Aufnahmen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Archivmaterial und Stimmen aus der Wissenschaft mit Leben erfüllt. Die künstlerisch ansprechende Umsetzung ermöglicht einen niedrigschwelligen Zugang zu komplexen Fragen der Gegenwart. Dazu werden eigens Unterrichtsmaterialien entwickelt und noch weitere lokale Kooperationen eingegangen, um sicherzustellen, dass die in den neuen Materialien enthaltenen Informationen zu jüdischem Leben auch regional und vor allem im schulischen Bereich wahrgenommen werden. Und nicht nur das: Sie mögen auch vielfach erfolgreich im Unterrichtsalltag eingesetzt werden, ist das erklärte Ziel von Miriam Bistrovic. Denn man könne bei Jugendlichen doch nur etwas erreichen, wenn man es schaffe, den Bogen von verstaubten historischen Quellen hin zur Praxis und Lebensrealität der jungen Generation zu schlagen, ist die Direktorin überzeugt.
Das Leo Baeck Institut in Jerusalem und die New Yorker Niederlassung in Berlin setzen sich beide in ihrem Wirken unermüdlich für die Bildung der Jugend in Israel und Deutschland und die deutsch-jüdische Verständigung ein – genau diesem Gedanken entsprang der Wunsch des 86-jährigen Heinz Hesdörffers, zurück nach Deutschland zu kommen: einem Überwinden des Schmähens des Andersgläubigen, wie er es als Schüler so bitter erfahren musste.
Dem Andenken an Heinz Hesdörffer, einem mutigen, tatkräftigen und hilfsbereitem deutschen Juden, soll die Verwendung seines großzügigen Erbes gewidmet sein.
Ein Essay über das Leben und Wirken Heinz Hesdörffers
von Dr. Raphaela Kitzmantel
Copyright: Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts e.V.
Home: https://fuf-leobaeck.de.
Das „Bildungswerk Heinz Hesdörffer e.V.“ dankt Frau Dr. Raphaela Kitzmantel und dem Verein „Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts“ für die unentgeltliche Überlassung des Textes. Alle Bilder stammen aus dem Archiv des Bildungswerks Heinz Hesdörffer e.V.